everisser

Eve Rissers White Desert Orchestra hatte 2015 auf dem Festival Banlieues Bleues in der Pariser Vorstadt Pantin Premiere und trat danach in Moers auf, gemeinsam mit einem vielköpfigen Chor. Nun ist das Orchester sichtlich gereift und bereiste kürzlich weitere renommierte Festivals in Tampere, Berlin und London. Im Zuge dessen stellte Eve Risser ihr Werk „Les Deux Versants Se Regardent“ auf CD vor. Ich hatte in Tampere die Gelegenheit, mich dem Gesamtkunstwerk Eve Risser zu nähern und mit der Komponistin und Bandleaderin zu sprechen, dem Orchester beim Soundcheck zuzuschauen und es schließlich live auf ihrem Konzert bei der Präsentation des neuen Albums zu erleben.

Eve Risser hat eine Gruppe von jungen Musikern für ihre Musik begeistert, die sie zum Teil noch aus Studienzeiten kennt. Das Ensemble ist ein Querschnitt durch die aktuelle französische Szene: Sylvaine Hélary spielt verschiedene Flöten und ist in der freien Jazz- und der neuen Musikszene Frankreichs unterwegs; den Fagott bläst Sophie Bernardo, deren Spektrum von Klassik, Chanson über Hiphop, bis zu Welt- und improvisierter Musik reicht (live ersetzt durch Sara Schoenbeck). Bassistin Fanny Lasfargues’ Zuhause ist die impro-elektroakustische Szene, sie spielt im White Desert Orchestra halbakustische Bassgitarre. An Saxofonen und Klarinetten wirken die jungen Improvisatoren Antonin-Tri Hoang (live spielte Silke Eberhard) und Benjamin Dousteyssier (Tenor- und Basssaxofon); Trompete spielt der Norweger Eivind Lønning, bekannt nicht nur aus dem Umfeld des Trondheim Jazz Orchesters. Die Bläser komplettiert der Posaunist Fidel Fourneyron, wie Dousteyssier Mitglied im Pariser Orchestre National de Jazz. Elektrische und akustische Gitarren spielt Julien Desprez, bekannt in der Pariser Noise- und Freerock-Szene und am Schlagzeug sowie einer überdimensionierten Basstrommel sitzt bzw. steht Sylvain Darrifourcq, Mitglied des Quartetts von Emile Parisien.

Alle Musiker wirken auf der Bühne angenehm bescheiden, egofrei und sympathisch. Ihre Soli verzichten auf Glanz und Gloria, Show und Virtuosität und stehen ganz im Dienste des kollektiven Klanges. „Es ist ein großes Orchester und wir können nicht allzu oft proben. Das Projekt ist eigentlich kein kollektives. Ich habe die Musiker gefragt, ob sie meine Musik spielen wollen. Sie geben mir ihre Zeit und Energie, und ich sorge dafür, dass das Geld da ist, sie zu bezahlen.“

Gespielt werden ausschließlich Eve Rissers Kompositionen. „Ab und zu ändert sich etwas, etwa dann, wenn wir mit dem Chor auftreten; und für die CD habe ich noch ein Stück (‚Shaking Peace’) von John Hollenbeck dazu genommen.“

Das White Desert Orchestra bietet nicht unbedingt Musik für die Komfortzone, eher konfrontiert es uns mit Klängen, die einerseits widerspiegeln, in welcher verrückten Zeit wir leben, die uns andererseits die Natur und deren Ruhe zurückbringen, aber auch die Unruhe vor Ohren und Augen halten, verursacht durch industriellen Lärm und geologische Katastrophen. „Ich wollte diese Spannung, die zwischen den Canyons vibriert, in Musik umsetzen, es hat mich geradezu geschockt: diese großartigen Orte, wo die Erde ihre alten Wunden offenbart.“ Das klingt besorgt, allerdings stellt Eve Risser auch gleich klar, dass sie die Zuhörer „weniger intellektuell als physisch“ erreichen möchte. Dass das gelingen kann, stellt das White Desert Orchestra gleich mit dem Titelstück unter Beweis: „Les Deux Versants Se Regardent“ - Zwei sich gegenüberstehende Hänge eines Canyons, die sich nicht berühren, aber die Komponistin lässt sie danach streben, denn weiter unten, am Boden, sind sie eh’ miteinander verbunden. Schon diese erste Klangreise changiert zwischen geordneter Dramatik, erhabener Schönheit und kreativem Chaos. Das getragene, dabei völlig unpathetische, Hauptthema des Stückes bleibt immer anwesend, selbst wenn eine genial imaginative Geräuschkulisse uns die Verschiebung von Gesteinsformationen oder andere geologische Vorgänge geradezu physisch spüren lässt. Und dabei bleibt die Musik lediglich von der Natur inspiriert, nie verkommt sie zur bloßen Vertonung eines Programms. „Tent Rocks“, das zweite Stück, beginnt mit sperrigen Klängen, eindringlich erzeugt von Julien Desprez’ akustischer Gitarre; ein abstrakt-freier Funk-Blues, und während der Reise treiben die Bläser dann Schwaden von Neuer Musik ins Geschehen, und kurz darauf erhält alles ein durchgängiges rhythmisches Fundament. Tenorsaxofon und später Posaune stoßen mit jazzigen Soli auf immer steiler werdende Bläserriffs, bevor das präparierte Klavier der Bandleaderin schließlich das Geschehen in die Hand nimmt und die Geschichte zu Ende bringt. „In diesem Stück hatte ich die Absicht, meine Eindrücke, die diese eigenartigen zeltförmigen Gesteine in New Mexico hinterlassen hatten, mit eher trockenen Klängen zu mischen sowie auch der Faszination, die Ligetis Cembalostücke auf mich ausüben,“ notiert Eve dazu. Sie beschreibt ihre Eindrücke und Absichten anhand kurzer Texte. Daneben sind auf dem CD-Cover Naturfotos zu sehen, eines für jede Komposition.

Von Rissers Solo-Album „Des Pas sur la Neige“ (sie wurde insbesondere während ihres Studiums inspiriert durch Claude Debussy, von dem es ein Prélude gleichen Titels gibt) hin zur ihrer Arbeit mit dem Orchester schien es musikalisch kein so großer Schritt zu sein. Das Spannende ist, dass sie es im Solo schafft, die klanglichen Möglichkeiten des Flügels mit Hilfe aller möglichen Handgriffe voll auszuschöpfen, um dann schließlich auf das Orchester dasselbe Prinzip anzuwenden. Ja, sie scheint geradezu jedem einzelnen Instrument des großen Ensembles jeweils eine der klanglichen Aufgaben zuzuweisen, die zuvor schon einmal unter ihren Händen im Klangraum des großen Pianos entstanden waren. „Das ist so,“ stimmt sie zu, „bis auf den großen Unterschied, dass das Klaviersolo gänzlich improvisiert und die Orchestermusik durchkomponiert ist, (obwohl gespielt von Improvisatoren). Ich lasse die benötigten Klänge in meine Partitur einfließen und nutze gleichzeitig das, was jeder Musiker speziell einbringen kann. Ich fordere jeden auf, Dinge zu finden und zu spielen, die zu meinen Ideen passen - zur gleichen Zeit lasse ich ihnen Raum, innerhalb eines ziemlich präzisierten Kontextes das zu tun, was ihnen gefällt. Stets die Wahl zu haben und andererseits Klänge zuzuweisen, das ist bei der ‚Orchestrierung’ des Pianos genau dasselbe, und in beiden Fällen lasse ich mich führen von meinem Verlangen nach bestimmten Klängen und dem Wunsch, besonderen Gefühlen Ausdruck zu geben.“

Sie war auch Flötistin, so fehlt ihr, wenn sie am Piano sitzt, manchmal der Flötenklang, die langen Noten. „Ich spiele zuhause gerne Akkordeon, es ermöglicht beides: Akkorde und ein Aushalten der Noten.“ Beim Solospiel auf dem Klavier benutzt sie öfters den EBow, ein elektronisches Gerät, das die Klaviersaite in dauerhafte Schwingung versetzt, das ist im Orchester nicht nötig. „Seit ich Solokonzerte spiele, weiß ich mehr, wer ich bin und was ich will“, ergänzt sie, „Ich liebe diese ruhigen Sachen. Wir dürfen ruhig und langsam spielen. Ich glaube, wir müssen schon oft genug laut reden, schnell und energetisch, um gehört zu werden. Wo nach ich mich manchmal sehne, ist zu tanzen, mit Musik, die mehr im Körper ist, wie z.B. die afrikanische. Und was ich sonst noch viel höre, ist nordische Musik, besonders die aus Norwegen.“

Auf der klassischen Seite sind es vor allem Ligeti und Debussy, die sie beeinflusst haben. Aber: „Meine Musik würde sicher nicht so klingen, wenn ich nie Jazz gespielt hätte. Auf der anderen Seite: klassische Musiker würden die Musik so nicht spielen können. Du brauchst Übung im Experimentieren, Offenheit, du musst ohne Urteil und Grenzen daran gehen.“

10 Finger – 10 Musiker

Es ist spürbar, dass Eve Risser sich persönlich in diesem Projekt sehr wiederfindet. „Ich habe meine letzten Jahre mehr oder weniger mit all den Musikern verbracht. Sie sind Teil meiner DNA und ich Teil der ihren. Sie spielen alle jeder für sich ganz verschiedene Sachen und wenn wir zusammen kommen, bitte ich sie, mich in meine Richtung zu begleiten. - Es ist 100% meine Musik, aber dennoch zu einem Zehntel die jedes Einzelnen. (...) So wie das Orchester heute aussieht, ist es ein Ergebnis meiner letzten Jahre in der Musik. Ich habe versucht, diese zusammenzufassen, zu resümieren.“

Bei Eve Rissers Arbeitsweise denkt man an Synästhesie, mindestens aber scheint sie eine sehr „visuelle“ Musikerin zu sein. „Manchmal kommen Titel und Imaginationen erst nach dem Komponieren. Und einige der Stücke schrieb ich direkt unter Eindruck eines Bildes, z. B. bei „Fumeroles“ sah ich diese Löcher im vulkanischen Boden in Island. Oft zeige ich den Musikern sogar ein Foto, damit sie wissen, was ich meine.“ Sie arbeitet stets mit einem Mix aus verschiedenen Methoden, und hat dabei offenbar auch im Auge, eine Balance zwischen weiblichen und männlichen Archetypen und Arbeitsweisen zu finden. „Ich glaube, ich habe es noch nicht gefunden, aber ich bin auf der Suche danach.“ Paritätisch besetzt mit fifty-fifty Frauen und Männern, scheint das Orchester in Zusammensetzung und Klangkonzept durch und durch den Polaritäten und ihrer Aufhebung gewidmet zu sein. Da ist das Kraftfeld zwischen Komposition und Improvisation, das zwischen Individuum und Kollektiv, zwischen Klassik und Jazz und nicht zuletzt: der Unterschied zwischen weiblichem und männlichem Zugang.

Wie entsteht nun diese magisch klingende Musik, bei der man manchmal nicht weiß, welche Teile improvisiert oder komponiert sind? Eve Risser versucht, für jedes Stück neu zu definieren, wie und worüber improvisiert werden soll. Es gibt Anweisungen, ja, aber die können bei jedem Stück anders aussehen. „Manchmal sage ich: dies ist komplett durchkomponiert, aber wenn ihr es durcheinander bringt - umso besser. Ich wollte nicht all meine Stücke auf dem Computer schreiben und sie dann den Musikern schicken. Einige habe ich sogar mit der Hand geschrieben und mit Zeichnungen versehen.“

Eve Rissers Musik ist Avantgarde, die ganz im Hier und Jetzt angesiedelt ist. Orchestraler Neuer Jazz mit allen Schikanen, der den Zuhörer mitnimmt auf eine Reise voller Überraschungen und Explosionen; die Musik atmet, wird von ständigen Wechseln geschüttelt, ist dennoch immer wieder ruhig, leise, mitunter sogar kontemplativ. Die Tatsache, dass der neue europäische Jazz so vielstimmig und bunt ist, gibt auch Anlass zur Hoffnung auf die Weiterexistenz eines vielstimmigen Europa, und Eve Rissers White Desert Orchestra trägt einen wichtigen Teil zu dieser Pluralität bei.

 

Die gebürtige Elsässerin Eve Risser (Colmar, 1982) hat ihre musikalischen Wurzeln als Flötistin und Pianistin in der Kammermusik. Während ihres Studiums kam sie in Kontakt mit zeitgenössischer Musik, Jazz und der Welt der improvisierten Musik. 2008 erhielt sie den 1. Klavierpreis in Jazz & improvisierter Musik am Conservatoire de Paris. Von 2009 bis 2013 spielte sie im Orchestre National de Jazz (ONJ). Sie arbeitete mit Musikern wie John Hollenbeck, Billy Hart, Benoît Delbecq, Jon Irabagon, Michael Formanek, Marc Ducret, Emile Parisien, Jean-Luc Guionnet, Michael Zerang, Joel Grip, Eivind Lønning, Wolfgang Mitterer, MAGMA, Magnetic Ensemble, Pascal Niggenkemper und vielen anderen.

 

CDs:

Eve Risser - Solo: „Des Pas sur la Neige“ (Clean Feed, 2015)

Neu: Eve Risser White Desert Orchestra: „Les Deux Versants Se Regardent“ (Clean Feed, 2016)

zurück...

Erschienen in JAZZTHETIK 01/02-2017
Eve Risser - White Desert Orchestra:
Klänge aus der weißen Wüste
Von Jan Kobrzinowski