Colin Stetson - Musik am offenen Herzen

 

Ein Wunder passiert im Zusammenspiel vom Rhythmus der Atmung mit der Bewegung von über Tasten und Klappen gleitenden Fingern. Der Saxofonist Colin Stetson gibt uns Einblicke ins Innere einer außergewöhnlichen Musik, mit der er nicht nur auf Avantgarde-Festivals, sondern auch in den Charts der Electronica-, Post-Rock-, Ambient- und Neofolkszene Aufmerksamkeit erregt.

 

Der Erfolg wurzelt in faszinierenden Soundscapes, die aus Arpeggios, Klappen-Grooves, Gesangslinien und sich allem ergebenden Minimal-Patterns entstehen. Stetson entwirft diese eigenartigen akustischen Erzählungen mit großem kompositorischen Gespür und hohem Bewusstsein für archaische Musik, gepaart mit einer Vorliebe für äußerst aktuell klingende Songs. Im Videoclip zur aktuellen CD All This I Do For Glory zeigt eine Mini-Kamera das komplexe Innenleben seines Saxofons. Dennoch bleibt das Geheimnis erhalten, wie perkussive Sounds und Stimmenverläufe sich überlagern und Kadenzen bilden - mit simultanem Gesang ins Horn. Und all das in Echtzeit, ohne Netz und doppelten Boden. Ganz gleich, ob auf der Bühne oder im Studio, Colin Stetsons Musik und Auftreten folgt einem immer gleichen Ritual. Er wiegt sich in Trance, ohne die eine solche Musik sicher nicht möglich wäre - oder ist es umgekehrt: kreiert die Musik den Zustand? -

„Das ist sehr verwandt mit Meditation. Du musst im Moment ganz frei sein, frei von der bewussten Betrachtung physischer oder geistiger Funktionen. Einfach Erleben, so dass sich hoffentlich das Gefühl des „Erlebens“ auflösen und du selbst das Erleben werden kannst. Das ist die Grundlage für den gesamten Prozess des Schreibens, Aufnehmens, Aufführens dieser Musik.“

Kein anderer Musiker kehrt sein Inneres derart schonungslos nach außen. Mitunter ist es direkt schmerzhaft für den Zuschauer. Man meint, Einblicke in die Welt seiner inneren Organe zu bekommen. Ein pulsierendes Herz, pochende Blutbahnen, zuckendes Fleisch. Musik am offenen Herzen. Am schmerzhaftesten ist es am Ende jedoch für ihn selbst. Das Spielen einiger Stücke ist körperlich so anstrengend, dass es ihn Jahre kostete, sich vorzubereiten.

„Bevor ich eine Show spiele, muss ich Atemübungen und massive Sehnenstreckübungen machen, damit ich keinen Krampf bekomme, wenn ich auf der Bühne bin“, sagt er. „Manchmal ist das Ganze ein repetitives Stress-Ding auf einem Bass-Saxofon, das einfach nur weh tut."

Als Gegenleistung bekommen er selbst und das Publikum Musik von erhabener Schönheit, glasklarer Aussagekraft und zwingendem Groove. Colin Stetson benutzt weder Overdubs oder Loops noch Echomaschinen, im Studio nicht einmal ein Metronom, wohl aber Hall-Effekte, die dem Ohr helfen, die verschiedenen Sounds besser voneinander abzugrenzen und dem Sound „mehr Raum und Dimension zu geben“. Er arbeitet mit genauestens platzierter Mikrofonie. Seine Saxofone (Bass, Tenor und Alt) sind kreative Miniatur-Baustellen, erstanden aus try and error-Prozessen, in denen es am Ende höchst geordnet zugeht; es gibt kein Vertun und keinerlei Zufälle.

„Konzentration ist sehr wichtig. Wenn ich schreibe oder ein Stück übe, spiele ich es hundertmal; so nehme ich all seine Facetten in mich auf, und es wird zugleich Sprache und Bewegung, second nature für mich. All diese Arbeit an Grundlage und Beziehung zum Stück erlaubt mir dann, gewissen Abstand zwischen meine Erfahrung der Sounds und der physischen Erzeugung der Töne zu bringen.“

Und es gibt da neben der perkussiven Eleganz der entstehenden Grooves, die hypermodern und manchmal sogar tanzbar klingen, stets dieses archaische Element.

„Ich bin definitiv nicht vom Didjeridoo inspiriert“, sagt er, „Bei der Entwicklung meiner Techniken denke ich vielmehr daran, wie die Zirkularatmung über Jahrtausende in fast allen Kulturen der Welt verwendet wurde. Es ist notwendig, der natürlichen Welt mit den ihr eigenen Begriffen zu begegnen. Es geht darum, Teil eines Kontinuums von Klängen zu werden, die in der Natur allgegenwärtig sind.“

Neben Archaischem klingt bisweilen die gesamte Rockgeschichte mit. „Between Water and Wind“ liefert uns den „Immigrant Song“ frei Haus:

„Nachdem ich das Stück geschrieben und aufgenommen habe, hörte ich eines Tages zufällig Led Zeppelin III, während ich im Hof arbeitete und entdeckte sofort die Gemeinsamkeiten. Ich nehme an, dass so etwas hin wieder passieren muss, weil wir selbst im Wesentlichen diese „Erlebnis-Filter“ sind, wir blicken aus bestimmten Winkeln, konsumieren Klänge und kreieren am Ende neue, sodass wir manchmal die wirklichen und offensichtlichen Verbindungen zwischen den Kreationen sowie ihre vielen Fragmente sehen können - wie unbewusst dieser Prozess auch immer abläuft.“

Ansonsten überlässt Colin Stetson das Publikum gerne seiner eigenen Erlebniswelt: „Ich möchte den Hörer offen und frei und unbelastet von meinen Absichten oder Gefühlen lassen. Wer daran interessiert ist, über sie zu lesen oder zu erfahren, woher ich komme, dem stehen meine Gedanken über all das zur Verfügung. Ich finde es aber besser, die Musik möglichst unvoreingenommen, wahr und ehrlich und frei von jeder Erwartung zu erfahren.“

Jan Kobrzinowski

Aktuelle CD: Colin Stetson: All This I Do For Glory (Indigo)

 

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Erschienen in JAZZTHETIK 07/08-2017
COLIN STETSON-
Musik am offenen Herzen
 
von Jan Kobrzinowski