„In allerfrühester Zeit war nur Ymir: da gab es weder Meer noch Land, noch salzige Wellen. Es gab weder die Erde noch den weiten Himmel, nur ein klaffendes Nichts und weit und breit kein Grün“. - Der Riese Ymir war das erste Lebewesen, ein archaischer Zwitter, aus dessen Einzelteilen die Götter den Rest der Welt erschufen, und in dessen Blut die Riesen der Vorzeit ertranken, um dem Neuen Platz zu machen. - Warum interessiert sich ein italienischer Musiker für die mythologische Saga nordischer Helden?
„Als ich gebeten wurde, Musik für das Bjergsted Jazz Ensemble zu schreiben, begann ich darüber nachzudenken, welche Geschichte ich wohl erzählen könnte. Nach einem Gespräch mit Tor Yttredal (dem Leiter des Ensembles), kamen mir die alten norwegischen Sagen in den Sinn. Nachdem ich diese mythologischen Geschichten gelesen und mich auf die Liedersammlung der Poetischen Edda konzentriert hatte, wählte ich Texte aus der Völuspá, der Prophezeiung der Völva, der alten schamanischen Priesterin, die in die Zukunft schauen kann. Alle Mythen sind Geschichten über frühere Zeiten und die Schaffung einer Welt, in der die Menschheit - nicht anders als heute - um Frieden auf der Erde kämpft. So begann diese musikalische Reise, meine persönliche Hommage an die skandinavischen Traditionen.“
Roberto Bonati ist Komponist, Kontrabassist, Dirigent und seit 2002 Professor für Jazz, Improvisation und Komposition sowie Leiter der Abteilung für „Neue Technologien und Sprachen“ am Konservatorium in Parma. Er leitet das Parma Frontiere Festival und gründete das gleichnamige Orchester. Immer fasziniert von der Verbindung verschiedener Kunstformen, schrieb er auch Musik für Film und Tanz.
Nun schuf Bonati mit dem Auftragswerk Nor Sea, Nor Land, Nor Salty Waves seine bilderreiche musikalische Liebeserklärung an das Land Norwegen. Das Bjergsted Jazz Ensemble aus Stavanger, lud den Komponisten ein, um es im März 2015 im Stavanger Jazz Forum uraufzuführen. Jetzt liegt das Werk als CD vor.
Mit Begeisterung warfen sich die knapp zwanzig jungen Leute der „College Big Band“ der Universität Stavanger auf dieses ambitionierte musikalische Projekt unter der Leitung des Italieners. Das Ensemble hatte zuvor schon mit John Scofield, Cyro Baptista, Bugge Wesseltoft, John Surman und anderen zusammengearbeitet. So schön die Klangbilder sind, die Roberto Bonati entwirft, wie etwa in „Fimbulvetr“ oder am Schluss in „Eagle“, so leidenschaftlich setzen es die Musiker um, allen voran die Vokalistin Irene Stangborli Time, deren wandlungsfähige Stimme von der schamanischen Erzählerin über Jazzgesang und experimentellem Kreischen bis hin zu ätherischem Folkgesang alles mitmacht. Die archaische Lyrik ist mit großem Einfühlungsvermögen in die Musik des wunderbar kreativ arbeitenden Klangkörpers eingearbeitet. Unter den jungen Solisten ragen Matias Aanundsen Hagen (ts), Øyvind Brække (tb), Øyvind Froberg Mathisen und Ndabuzekwayo Bombo (tp) sowie Arild Wold Hoem (as) heraus.
Der lyrische Bogen spannt sich von der nordischen Schöpfungsgeschichte bis hin zum apokalyptischen Szenario. Die getragene Stimmung in „Prophecy of the Völva“, der Ouvertüre, wird schon nach knappen fünf Minuten aufgebrochen: Tenorsaxofon und Trompete quirlen die erhaben medievalen Posaunenklänge der Prophezeiung jazzmäßig auf. „Nor Sea, Nor Land, Nor Salty Waves - Part I & II“ bilden den Hauptteil der musikalischen Saga. Harmonisch und metrisch freie und rhythmische Passagen wechseln sich ab, bevor E-Gitarre und schamanische Vokaleinlagen den Reigen für die Solisten eröffnen und Raum für die ersten Verse schaffen. Im weiteren Verlauf entfalten sich immer wieder nordisch anmutende Stimmungen, gefolgt von spannend gestrickten Ostinati, um die sich geschickt arrangierte Bläserharmonien ranken. Immer wieder greifen Solisten ins Geschehen ein und wie ein roter Faden tauchen die mittelalterlichen Verse in englischer Sprache auf. Die vier letzten Stücke der Suite künden vom bevorstehenden Weltuntergang und der Wiedergeburt der Welt aus dem Meer. Bei aller starken Anbindung an die Lyrik kann man sich allerdings auch in die Musik hineinhören, ohne sich zu sehr um die Textgrundlage zu kümmern.
Moderne norwegische Musik besitzt diese einmalige, eigenartige Nähe sowohl zu ancestralem Folk, Neuer Musik als auch zu modernem Großformat-Jazz. Am besten genießt man Nor Sea, Nor Land, Nor Salty Waves als Suite im Ganzen, dann erst erschließt sich Roberto Bonatis hohe Kunst der Überbrückung von Polaritäten und sein Mut im Umgang mit verschiedenen Stilen und Genres. Inspiriert von einer Affinität zur nordischen Musik entstand eine großartig gelungene Fusion aus orchestralem Jazz, moderner europäischer Konzertmusik, Film-Scores und Folklore, der man viele Zuhörer wünscht.
Jan Kobrzinowski
CD: Roberto Bonati – Bjergsted Jazz Ensemble: Nor Sea, Nor Land, Nor Salty Waves
A Nordic story (Parma Frontiere)