Stucky
Erika Stucky - Tiere weinen hören
 
Die Künstlerin behängt sich für das Cover mit fleischigen Accessoires: geschnittener Schinken und Koteletts. Eben Stucky, aber eben auch Papa Bruno, genannt Papito, der hatte als Metzger schon immer mit Fleisch zu tun. Dazu „die Schwingungen von Därmen, gewissermaßen die Tiere weinen hören.“ Stucky wäre nicht Stucky, wenn sie nicht wieder einmal etwas Einzigartiges zusammengestellt hätte: ihr persönliches „Darmsaiten-Ensemble“, das Basler La Cetra-Barockorchester, dirigiert von Knut Jensen, dazu FM Einheit (Einstürzende Neubauten) als Sound-Designer und den Countertenor Andreas Scholl.
 
Es ist 14.05 Uhr. Am Telefon, genau wie verabredet.
Kobrzinowski: Kobrzinowski.
Stucky: Stucky.
 
K: Superpünktlich. Das hat jetzt schon was mit Schweizer Präzision zu tun, oder?
S: Ja, ich denke schon.
 
K: Ok, ich bin nicht Freud, der Therapeut, aber reden wir über Papito, oder ist das zu persönlich?
S: Nein. Ich habe mich jetzt 2 Jahre lang mit meinem Vater beschäftigt. Der Schnaps ist destilliert, jetzt trinken wir den auch! Hast du Töchter, kennst du das auch?
 
K: Nein, leider nicht. Keine Kinder, aber ich bin Sohn.
S: Als Bub verliebt man sich auch vielleicht ein bisschen in seine Mutter? Das Ödipale wird ja irgendwo her kommen. Aber, wo wir bei Freud sind: Töchter und Väter, das ist schon verrückt. Das ist der erste Mann, der dich hochgehalten hat, der dich geküsst hat, das ist ganz wichtig.
 
K: Eines der Fotos auf dem Cover: da trinken zwei ganz inbrünstig zusammen.
S: Ja, das ist der Bruno, der Papa, mit mir. Und die Mutter ist abgeschnitten, schön gemein. Wenn sie dann mal nicht mehr ist, mach ich eine Mamita-CD, aber jetzt ist Papito dran. Aber gefreut hat sie sich schon.
 
K: Ist er immer mit dabei, mit dir auf der Bühne?
S: Er ist jetzt 7 Jahre tot, anfangs habe ich ihn schon dabeigehabt, hatte das Gefühl, er sitzt ganz hinten und guckt zu. Nein, jetzt ist er weg.
 
K: Auf Papito geschieht fast alles im Balladentempo.
S: Ja, so wie ein Abend mit einem geliebten Menschen und dann diese entsprechend melancholische Stimmung dazu. Oder wie ein Maler mit einer blauen Phase und danach einer grünen. Jetzt habe ich mich das mal getraut mir über 50. Früher musste ja immer noch was Schnelles dabei sein.
 
K: Mit dem Ensemble lag das Getragene ja nahe?
S: Ja, aber ich hatte den FM Einheit dabei, wir hätten das Ganze schon noch aufpeppen können. Aber durch ihn hat das ganze Gericht diesen Koriander-Geschmack. Unglaublich potent , der Mann. Und wenn er fehlt, wird es fad.
 
K: Man spürt ihn eher, als dass man ihn hört.
S: Ja. Stell dir vor, du sitzt irgendwo in einem Raum am Tisch und ganz hinten hockt Al Pacino und sagt gar nichts. Und du hörst bloss den Schaukelstuhl quietschen und weißt, dass er da ist. Der FM hat mich echt umgehauen. Aber ich kann über alles schwärmen, auch über den Scholl.
 
K: Dann schwärme doch mal über den Scholl.
S: Oh, yes, der Mann ist wie ein Gas, wenn er singt. Er ist schwerelos, in den höchsten Tönen, und trotzdem so männlich. Er singt hoch, but he’s hell of a man!
 
K: Und schwärmt von dir auf Facebook: "Erika is one of the most amazing performers I ever met".
S: Und dabei ist er gar nicht unnötig überschwänglich, ganz der anspruchsvolle deutsche Künstler. Er wählt seine Worte sehr genau, so wie er auch singt.
 
K: Und euer Duett: „Tea for two“: du die Unterstimme, er die obere.
S: Ja, und dann dieses blutige „Not While I’m Around“ aus dem Musical Sweeney Todd. Da kommt dieses Unheimliche dazu, wenn ein Mann so hoch singt. There’s something spooky about it.
 
K: Man weiß von dir, dass Du einfach losgehst und Dir suchst, was Du brauchst. Aber das ist schon speziell.
S: Oh yes, I scared myself. Ich mache etwas mit einem weltberühmten Countertenor, mit einem Punk-/Industrial-Rocker und dazu nehme ich mir noch sieben Barock-Streicher, das ist doch eine Schnapsidee! Aber vergiss nicht: ich bin mit diesen zwei Kulturen aufgewachsen. Da lernst du, Sachen zu vermischen, die eigentlich nicht mischbar sind. LSD und Jodeln: No, Sir! Die Schweizer sind da sehr Old-School.
 
K: Aber den Hang zum Verrückten haben sie schon.
S: Ja, schau, die Berge, denen musst Du was entgegenhalten. Wenn du angesichts der Berge einfach nur niederkniest, wirst du einfach überrollt, überschüttet.
 
K: Wieviel Schweiz steckt denn heute noch in Stucky?
S: Wahrscheinlich 40/40 plus 20% noch irgendetwas anderes.
 
K: Bei 40% ist Amerika im Repertoire.
S: Ja, und dazu suche ich mir auch die passenden Leute: ein Albert Wieder mit seinen wahnsinnigen Arrangements und ein Knut Jensen: das sind Menschen, die meinen „Dialekt“ perfekt verstehen. Im Sinne dieses typischen Akzentes, den du immer haben wirst und nie wegbekommst.
 
K: Und sonst?
S: Ich hab gestaunt, dass die Leute bei den ersten Live-Auftritten so auf „Stacheldraht“ ansprachen. Ein Festivaldirektor aus Melbourne interessierte sich für die Figur, die sei doch bestimmt von William Burroughs, und Stacheldraht bestimmt ein Geheimwort für Rumpelstilzchen. Das ist doch interessant, all diese Schwyzer Männer, die nach Amerika auswanderten und sich Namen gaben wie z. B. Johnny, obwohl sie doch daheim der Hans waren. Die haben sich solche Rumpelstilzchen-Namen gegeben, um sich frei zu strampeln. Manchmal muss erst einer aus Melbourne kommen, damit man selber checkt, was man da ‚ausdünstet’. Da kommt ein Typ in eine Bar mit einem Stacheldraht-Tattoo, ein Pionier, Cowboy, ein Wilder, der wahrscheinlich daheim im Dorf ein braver Metzgerbub ist, aber in Amerika ist er halt der Stacheldraht. Ich merke erst jetzt, was mir da so durch den Kopf schoss, als ich das in der Nacht aufschrieb. Das ist jetzt so eine Übung für mich, das auszudeutschen, das werde ich jetzt wohl öfter machen müssen.
 
K: Also genauso, wie Du es jetzt mir erklärst?
S: Ja, ich schreibe etwas und dann suche ich die Wörter dazu, und nicht umgekehrt. Von intuitiv zu ausgesprochen. Das passiert ohne Kraftaufwand: ich beuge mich über meinen Laptop und spreche in das kleine Mikrofon hinein: „this heatwave through his jacket, this touch of Aqua Velva. (mein Vater hatte dieses After Shave). Who would trust a man named Stacheldraht?“
 
Stucky nimmt aus 50 Sätzen 13 raus und die sind dann im Song. "Brainstorming kann man das nicht nennen, es hat ja nicht soviel mit Hirn zu tun. Eher ein assoziatives Sich-Pushen."
„Sometimes I'm crazy, but I guess you know, and I'm weak and I'm lazy, and I've hurt you so,“ sagt Randy Newman. Die Frau gerät an den falschen Mann, aber das kann nicht Papa sein, oder Papito. Genau wie Randy geht sie davon aus, dass sie die Welt genau im Auge behalten muss. Und den Finger in die Wunde legen. Sodass es schmerzt.
 
CD: Erika Stucky: Papito (Traumton/Indigo)

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Erschienen in JAZZTHETIK 11/12-2017
Erika Stucky - Tiere weinen hören
Ein Gespräch mit der Künstlerin über ihr neues Album Papito
 
von Jan Kobrzinowski